Weniger Bauhaus, mehr Tachles
Die von Ludwig Mies van der Rohe entworfene Kapelle St. Saviour: Quadratisch, aber nicht praktisch und gut. Quelle: archinform
Forsetzung von: Gebet oder Musik?
Die Behauptung im letzten Artikel lautete: Die sakrale Musik ist zugleich Gebet und Musik!
Das ist kein Widerspruch, denn das eine beschreibt den Zweck (das Gebet), und das andere beschreibt die Form (die Musik). Es handelt sich hier um ein katholisches Sowohl-als-auch: Es ist ein Kunsthandwerk, welches aber im Glauben gründet.
Im Übrigen ist es gar keine ungewöhnliche Angelegenheit, daß Zweck und Form fest zu einer Sache dazugehören, während es doch vom Begriff her zwei verschiedene Dinge sind. Wie Zweck und Form sich im Detail aufeinander beziehen (sollen), unterliegt freilich einem kulturellen Wandel. Man muß bei diesen Stichworten unmittelbar an die Bauhaus-Architektur denken, die glaubte, Zweck und Form überhaupt erst zusammenzubringen unter dem Slogan „Die Form folgt der Funktion“.
In Wirklichkeit sind diese Begriffe freilich etwas älter. Aristoteles unterschied bekanntermaßen nicht zwei, sondern gleich vier „Ursachen“, in denen ein Ding gründet: Zweck, Form, Stoff und Wirkursache. Es lohnt sich, diese vier Begriffe im Fall der Kirchenmusik einmal zuzuordnen. Den Zweck haben wir bereits (recht allgemein gesprochen) als das Gebet identifiziert und die Form als die Musik. Beim Stoff können wir ruhig an den Text denken, das ist das vertonte Material. Bei der Wirkursache ist die Handlung gemeint, welche die Sache in Bewegung bringt; da kann man an die Tätigkeit der Sänger und aller anderen Beteiligten denken. Vielleicht reicht es aber nicht, wenn der Sänger nur aus sich selbst heraus singt, und es muß eben doch erst der heilige Geist als im Hintergrund Handelnder dazutreten, damit die Sache wirklich in Gang kommt?
Das Textmaterial ist im Übrigen recht eigentümlich: Die große Masse der Choräle bedient sich der Texte der Psalmen. Abgesehen davon, daß die Psalmen zum Singen geschrieben wurden und mit entsprechendem Tiefgang das Verhältnis des Menschen zu Gott besingen, hätte es eigentlich keine zwingenden Gründe für diese Auswahl gegeben1; es ist ein Merkmal der christlichen Kultur, das sich so herausgebildet hat. Bemerkenswert ist das, weil wir damit hervorheben können, daß „Text“ und „Gebet“ in diesem Zusammhang nicht dasselbe bedeuten. Schließlich wurden die Psalmen nicht erst geschrieben, um die Festgeheimnisse der Kirche so gut beschreiben zu können. Der Psalmtext ist gewissermaßen der Träger des Gebets, aber der Text an sich macht noch kein Gebet. Wer das akzeptiert hat, wird ebenso wenig Hemmungen haben, die Musik als ebenbürtigen Aspekt hinzutreten zu lassen.
In der Gregorianik hat es in der Vergangenheit einmal eine Position gegeben, welche vom „Vorrang des Textes“ sprach. So sehr man für die Beweggründe Verständnis aufbringen kann (zurück zu den Ursprüngen…), so falsch sind trotzdem die Schlußfolgerungen, die sich aus dieser Position ergeben. Möglicherweise hat man damals die Begriffe „Text“ und „Gebet“ nicht klar unterschieden? Im Nachhinein muß man die Rede vom „Vorrang des Textes“ als eine Neuauflage von „sola scriptura“ bewerten, oder eben als eine Neuauflage von „Die Form folgt der Funktion“. Agustoni und Göschl fanden 1987 in ihrer Einführung in die Interpratation des Gregorianschen Chorals dazu die richtigen Worte. Sie schreiben sinngemäß: Das Wort steht im Anfang und ist die (Text-)Quelle, aber die Melodie und die musikalische Form treten dazu und gehen mit dem Text eine untrennbare Einheit ein.
Damit kommen wir zu den Texten des Propriums, also die der Messe eigenen Gesänge. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht jenen Autoren anschließen, welche überhaupt keine Volkslieder oder sonstige musikalische Gestaltung zulassen wollen und sich streng auf die liturgischen Texte beschränken möchten. Diese Herangehensweise scheint ein auf den englischen Sprachraum beschränktes Phänomen zu sein, und es wird hier im Offertorium sicher noch Gelegenheit geben, dieses im Detail zu besprechen. Andernorts irren wir freilich gerne in der entgegengesetzten Richtung, singen einfach irgendwelche Lieder und erklären diese Gewohnheit ohne Prüfung zur Norm. Man muß aber zuerst verstehen, warum ein großer Wert darin liegt, daß das Proprium gesungen wird. Auf dieser Grundlage kann man dann arbeiten.
Man könnte meinen, das gesungene Proprium habe für den Meßgänger gar keinen Wert. Schließlich ist der gesungene lateinische Text fast nicht zu verstehen, es sei denn, man ist mit dem Text ohnehin schon vertraut. Ist man das nicht, hilft nur der Blick ins Volksmeßbuch; dort hinein kann man aber ohnehin schauen, ganz egal, was gerade gesungen wird.
Das wäre aber ein Irrtum, denn allein durch das Singen des Meßtextes wird etwas über den Text ausgesagt. Damit wird gezeigt, daß der Text von ganz besonderer Wichtigkeit und Heiligkeit ist. Ein ins Mikrofon gesprochener Text dient der reinen Information; ein gesungener Text aber wird dem Herrn als ein Opfer dargebracht. Wie Weihrauch steige mein Gebet vor Dir auf! Gleichzeitig hilft dies dem Meßgänger zu einem intuitiven Verständnis für den Sinn der Gebete in der Messe und verleitet ihn womöglich überhaupt erst dazu, tiefer in das Geheimnis des Glaubens einzutauchen. Das ist eine participatio actuosa im allerfeinsten Sinne.
Der Gesang nimmt wirklich eine ganz ähnliche Rolle in der Messe ein wie der Weihrauch. Hat man ihn, so wirkt alles feierlicher, aber die Feierlichkeiten sind kein Selbstzweck, sondern verweisen auf den, der gefeiert wird. Vielleicht habt auch Ihr schon einmal eine Messe erlebt, die vom Priester auf minimalistisch-modernistische Weise zelebriert wurde, der aber der großzügige Einsatz von Weihrauch und eine solide Kantorenarbeit wenigstens ein glänzendes weißes Kleid verlieh?
Über die der Messe eigenen Gesänge hinaus eignet sich nicht jede Art von Musik in gleichem Maße. Ich möchte dabei gar nicht gegen die Vielfalt des Materials argumentieren. Die Tradition selbst hat schließlich verschiedene Stile hervorgebracht, und wir können aus dem Vollen schöpfen. Ausgerechnet dann, wenn die Möglichkeiten beschränkt sind, gilt es aber, eine Auswahl zu treffen, welche unter den gegebenen Bedingungen die Liturgie am Vorzüglichsten zu bekleiden vermag. Man sollte nicht gleich alles machen wollen, wo es noch am Einfachsten fehlt. Es gibt populäre Lieder, die ganz herzige Einblicke in die Volksfrömmigkeit vergangener Jahrhunderte erlauben, und auch das hat an geeigneter Stelle seinen Wert. Doch was nützt das, wenn der Sinn des gerade gefeierten Festes nicht erfaßt wird, weil dessen eigene Texte unter den Tisch gefallen sind? Bedauerlich sind auch Rückgriffe auf nicht katholisches Material, die eigentlich immer vermeidbar sind (das wäre glatt einen eigenen Artikel wert).
Es gibt auch Umstände, die bei der Auswahl des Materials zu beachten sind. Eine Festmesse zu einem besonderen Anlaß in einer großen Abteikirche verlangt nach einem strengeren Programm als eine grüne Sonntagsmesse in einer kleinen Kapelle. Man zieht ja zu einem Seidenhemd meist keine zerrissenen Jeans an, d. h. entsprechend dem Ambiente wird es auch eine Erwartungshaltung geben.
Manche Menschen kritisieren es, daß jemand nur der hübschen Musik wegen zur Messe gehe, so als bestünde bei einem Liebhaber der sakralen Musik sogleich der Verdacht der Lauheit. Ich halte diese Sorge für vollkommen unbegründet; das Gegenteil ist wahr. Vielmehr vermag sich der treue Meßgänger auch mit schlecht ausgeführter Musik abzufinden, weil er weiß, daß das alles ein Opfer zu Gottes Ehren ist. Kennt Ihr etwa jemanden, der sich auf der Suche nach Zerstreuung geradewegs in eine Kirche verirrt hätte?
Es ist trotzdem möglich und vielleicht gar nicht so selten, mit dem Hilfsmittel der sakralen Musik bekehrt zu werden. Der Mensch kann nämlich ahnen, worauf die Musik verweist, und findet so einen Weg, auf dem er fortschreiten kann. Die sakrale Musik ist ein Zeugnis, sie spricht: Siehe Gott, meinen Retter! Ein wirklich lauer Christ wird über die erhabenste sakrale Musik aber noch die Nase rümpfen und sie ablehnen, weil auch er ahnt, zu welcher Ehre sie Gott gereicht, und solcher Ehrerbietung in seinem Leben keinen Platz einräumen will.
Fußnoten
Nachtrag vom August 2024: Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden, daß es doch einen ausgezeichneten Grund dafür gibt, daß die liturgischen Texte aus den Psalmen schöpfen: nämlich, daß der Herr selbst sie für sein Gebet zum Vater nutzte.