Das Offertorium

Gebet oder Musik?

Harfenspielender König David (Gerard van Honthorst, 1622)

Handelt es sich bei den Gesängen der Messe um ein Gebet oder um eine Musik? Die Antwort sei gleich vorweggenommen: Es handelt sich selbstverständlich um beides gleichzeitig; und das bedeutet eine ganze Menge für den, der sie ausführt.

Kirchenmusik ist zugleich Gebet und Musik. Will man den einen Aspekt überbetonen und dafür den anderen verkürzen, also die Kirchenmusik als reines Gebet oder als reine Musik auffassen, so führt dies unweigerlich zu Fehlern bei der Ausführung, und das Resultat wird weder dem einen noch dem anderen Aspekt gerecht werden.

Sachliche Argumente werden wir in einem Folgeartikel nachliefern. Spannender sind die verschiedenen Arten von Fehlern, die sich aus einer falschen Auffassung ergeben können. In Bezug auf das Begehen von Fehlern darf der Autor dieser Zeilen darin gerühmt werden, ganz aus eigener Erfahrung zu sprechen…

Den Sänger, der seine Tätigkeit als reines Gebet auffassen will, gibt es in verschiedenen Spielarten. Es gibt da eine Sorte des singenden Beters, der einen Vers zwar mit den vorgeschriebenen Tönen zu Gehör zu bringen vermag, der sich aber weigert, darüber hinaus die der Musik innewohnenden Gesetzmäßigkeiten anzuwenden (Phrasierung, Dynamik, Rhythmus, Aussprache, Technik, …). Das Ergebnis wird eine künstlich monotone Realisierung der Melodie sein, ein Vor-sich-hin-murmeln: Während man glaubt, besonders fromm zu handeln, verhindert man in Wirklichkeit die korrekte Ausführung des Gebets.

Eine zweite Sorte des singenden Beters überbetont die Bedeutung der einzelnen Zeichen in der Notation der Gesänge. Hier handelt es sich tragischerweise um besonders belesene und gut informierte Menschen, die ihr Wissen anwenden und alles korrekt befolgen möchten. Es gibt aber musikalische Gesetzmäßigkeiten, welche der Notation übergeordnet sind: Es nützt nichts, einen irgendwie gearteten Zwischenraum zwischen zwei Quadratnoten an eine spezielle Interpretation zu knüpfen, wenn dies im konkreten Fall z. B. eine unnatürliche Phrasierung oder einen unwahrscheinlichen Rhythmus erzeugt.

Auf der anderen Seite gibt es den Sänger, der seine Tätigkeit als reine Musik versteht – sei es aus Unbedarftheit oder aus sonst welchen ideologischen Gründen. Dieser Sänger wird auf lange Sicht natürlich gar kein Verständnis für das Material aufbringen. Dies wird es ihm wiederum unmöglich machen, der Musik den korrekten Ausdruck zu geben, selbst unter rein musikalischen Aspekten. Denn ein Vers, dessen Text den Ruhm Gottes zum Thema hat, verlangt nach einer musikalischen Umsetzung, welche sich an eben diesem Ruhm orientiert. Ohnehin wird diesem Sänger recht bald die Motivation ausgehen. In einer abgeschwächten Variante gesteht er dem Meßgesang zwar seine spirituelle Bedeutung zu, aber er vernachlässigt diese; dann mag die Motivation etwas länger halten, aber trotzdem zu schwachen Ergebnissen führen.

Ein Priester, der die Kirchenmusik als reines Gebet auffassen will, wird gar kein Verständnis für die Bemühungen der ehrenamtlichen Sänger aufbringen können. Was gibt es bei einem Gebet schon groß zu proben? Darüber hinaus muß der Priester natürlich verstehen, daß die Musik auch ein Handwerk ist und entsprechender Vorbereitung bedarf. Die Chöre, von denen wir sprechen, setzen sich aus Gemeindemdemitgliedern zusammen, die zum größten Teil eben keine Musiker sind. Das verlangt nach umso intensiverer Vorbereitung. Glücklich ist der Priester zu schätzen, der seinem professionellen (oder geduldigen) Organisten fünf Minuten vor der Messe noch seine Vorstellungen für die musikalische Gestaltung mitteilen darf. Er übertrage diese Gewohnheit aber nicht allzu unbedacht auf einen ganzen Chor: Im Gegenteil verdient dessen Aufbau und Entwicklung ein Grundmaß an Aufmerksamkeit.

Einem Priester hingegen, der die Kirchenmusik als reine Musik versteht, wird es weder gelingen, die Musik mit seiner Zelebration in Einklang zu bringen, noch wird er dem Chor überhaupt Anleitung geben können. Hier besteht tatsächlich die Gefahr, den Chor nur als hübsche Untermalung oder gar als Dienstleistung an den Klerus wahrzunehmen, was z. B. zu Fehlern bei der Programmierung führen kann.

Dieses Risiko gilt auch für den Chorleiter. Der mag zum Beispiel aus sentimentalen Gründen einem banalen Lied oder einem beliebigen effektvollen Stück den Vorzug geben, ohne Rücksicht auf das zu feiernde Fest zu nehmen. Ein Problem wird dies, wo solche Fehler zur Gewohnheit werden, denn die Gewohnheit wird irgendwann als Norm wahrgenommen: man hat sich in der Gewohnheit festgefahren und findet dann so leicht auch nicht mehr heraus.

Soweit unsere heutige karikaturhafte Darstellung. Eines ist dabei hoffentlich deutlich geworden: Eine unterschiedliche Auffassung in einem zuerst unbedeutend erscheinenden Detail kann ganz offenbare praktische Auswirkungen haben!

Weiter bei: Weniger Bauhaus, mehr Tachles