Das weihnachtliche Gespür
Herr Ebenezer Scrooge und der Geist der diesjährigen Weihnachtsnacht, aus der Erstausgabe von Dickens' Weihnachtsgeschichte.
Unsere regelmäßige Klage darüber, daß die Kirchenmusik allerorten mißverstanden und vernachlässigt wird, muß zur Weihnachtszeit eine Schweigepause einlegen – nicht etwa aus Höflichkeit, sondern weil in der Weihnachtszeit die sonderbare Kraft liegt, den Menschen allerorten den Sinn für das Offensichtliche zu öffnen, so wie das schon beim oben abgebildeten Herrn Scrooge der Fall war. So steigt während der Weihnachtszeit (von sonderbaren Ausnahmen abgesehen) auf wundersame Weise auch der Sinn für festlich gestaltete Liturgie, und das spiegelt sich erfreulicherweise auch in den Feuilletons wider.
Befeuert wurde unser Thema dann noch durch einen merkwürdigen Konflikt in der Erzdiözese Freiburg: Diese scheint nicht zur Ruhe kommen zu wollen, seit sie dem bei den Domsingknaben offenbar geschätzten Domkapellmeister Böhmann kündigte und sich seitdem windet und stur bedauert, nichts bekanntgeben zu können über die mysteriösen „Differenzen“, die zu der Kündigung geführt haben sollen. Die Kündigung wurde schon im Juli ausgesprochen; offenbar sensibilisiert die Weihnachtszeit die Menschen aber so sehr, daß der Konflikt erst jetzt richtig zur Entfaltung kommt und von der FAZ wie auch von der Tagespost umfangreich kommentiert wird. Die Art der Kommunikation seitens der Erzdiözese erweckt dabei den plumpen Eindruck, daß sie sich auch in Zukunft nicht zu diesem Schritt erklären will und daß klare Interessen dahinterstecken. Wie man sich diese Interessen auszumalen hat, liegt noch im Dunkeln.
Auch in den ganz katholischen Medien zeigt dieser Tage die Kirchenmusik etwas Präsenz, was uns in die unwahrscheinliche Lage bringt, hier zwei Repliken auf ganz empfehlenswerte Autoren verfassen zu müssen. Aber es gehört ja nach wenigen veröffentlichten Artikeln bereits zum Markenzeichen des Offertoriums, daß sich unsere kleinlichen Sachkritiken ausgerechnet gegen Jene richten, die gewohnheitsmäßig viel Richtiges sagen.
1. Altrömischer Choral
Beim Ersten geht es um die Ursprünge der Gregorianik: ein faszinierendes Thema mit einer für die frühen Jahrhunderte typischen desolaten Quellenlage. Herr Charlier von summorum-pontificum.de stieß in diesem Zusammenhang auf jenes Thema, welches auf englisch als Old Roman Chant, auf deutsch entsprechend als altrömischer Choral bezeichnet wird. Gemeint ist mit diesem Begriff nicht eigentlich ein Musikstil, sondern man bezieht sich damit auf (sehr wenige) historische Quellen aus den früheren Jahrhunderten, in welchen kirchliche Gesänge notiert sind, und zwar aus der Stadt Rom selbst. Den Begriff Gregorianik vermeidet man im Zusammenhang mit den betreffenden Quellen hauptsächlich aus dem Grund, daß die Melodien nicht mit den überlieferten, d. h. weiterhin gebrauchten gregorianischen Melodien übereinstimmen. Die Melodien sind also außer Gebrauch gefallen; ihre Notationsart in Neumenschrift legt aber nahe, daß sie stilistisch mit der Gregorianik übereinstimmen. Das Adjektiv römisch im Wort altrömisch ist darüber hinaus als Hinweis zu verstehen, daß es sich um Gesänge für die römische Litugie handelt und nicht etwa eines anderen Ritus wie des ambrosianischen: Jener verfügt ja seinerseits über seinen ambrosianischen Gesang, welcher auf ähnliche Weise stilverwandt ist, aber aus anderen Melodien besteht.
Charlier schreibt nun:
Versuche, die Melodien und die Vortragsweise dieser älteren Quellen zum Klingen zu bringen, führten dann jedoch zu einem äußerst merkwürdigen Befund: Das klang in weiten Teilen ganz und gar nicht „gregorianisch“, sondern erinnerte einerseits an Gesänge der Ostkirchen aus der byzantinischen Tradition, hatte andererseits aber auch unüberhörbare Anklänge an den Orient im weitesten Sinne, also an Musik, wie man sie sowohl aus Israel als auch aus den arabischen (und anderen moslemischen) Ländern hören kann.
Er bezieht sich hierbei natürlich auf die Aufnahmen altrömischer Melodien des Ensemble Organum. Man darf sich jedoch nicht täuschen lassen: Deren kunstvoll ausgeführte, östlich anmutende Ausführung hat nun wirklich keinen Grund in der Quellenlage und ist eher als Experiment zu verstehen. Das Projekt klingt byzantinisch und orientalisch, weil das Ensemble dies bewußt künstlerisch so umgesetzt hat. Das hat den faszinierenden Effekt, daß die „verfremdeten“ Melodien dann noch mehr danach klingen, aus einer fernen Zeit zu uns gefunden zu haben. Der Umkehrschluß, daß der altrömische Choral also in besonderer Weise byzantinisch oder orientalisch beeinflußt gewesen sein soll, ist aber nicht zulässig. Freilich: Man nimmt durchaus an, daß der westliche Gesang nicht aus dem Nichts erfunden wurde, sondern, bedingt durch seine Entwicklung innerhalb der Kirche, seinen Ursprung im Osten hat. Daraus lassen sich aber keine Stilzusammenhänge zum (heutigen) Gesang der Ostkirche ziehen.
Hier ein Beispiel einer altrömischen Quelle, geklaut von New Liturgical Movement:
Auffallend ist die Notation mit einer durchgezogenen Linie, die in einem zweiten Beispiel sogar über einen Notenschlüssel verfügt:
Die Notation zeigt besondere Ähnlichkeit mit diesem Beispiel Beneventanischen Gesangs, ebenfalls eine nicht-gregorianische Quelle aus Italien, allerdings aus dem 12. Jahrhundert:
In gregorianischen Neumen fehlt gewöhnlich die durchgezogene Linie, und die Notation ist auch zu ungenau um stets von einer gedachten Linie auszugehen. Darüber hinaus benutzen verschiedene gregorianische Quellen verschiedene Zeichen, um dieselben Melodien zu notieren. Trotzdem erkennt man, wie an diesem gregorianischen Beispiel aus Laon, daß der Notation im Wesentlichen dieselben Prinzipien zu Grunde liegen:
Deutliche Unterschiede stellt man fest, wenn man ein byzantinisches Manuskript aus dem 15. Jahrhundert danebenlegt:
Ein wenig mehr zum Thema findet man bei New Liturgical Movement, hier und hier.
2. Neue deutsche Weihnachtsmusik?
Zurück zur Gegenwart! Frau Einig kommentiert in der Tagespost ein Interview des Domradios mit dem Kölner Domkapitular Markus Bosbach:
Der Gedanke des Präsidenten des Cäcilienverbandes, das Fest der Geburt Jesu als musikalische Inspiration für mehr neue deutsche Weihnachtsmusik zu nutzen, kommt durchaus zur rechten Zeit. Angesichts sterbender Kirchenchöre steht die Kirche vor der Aufgabe, Chorleitern und Komponisten den Rücken zu stärken.
Natürlich stößt Frau Einig hier genau ins richtige Horn, und auch das Bosbach-Interview ist lesenswert. Eine Korrektur scheint uns aber trotzdem angebracht, angestoßen durch die etwas wunderliche, aus der Interview-Überschrift übernommene Formulierung von „neuer deutscher Weihnachtsmusik“. Dies und der Verweis auf Komponisten erwecken den Eindruck, daß überhaupt etwas Neues und zudem noch speziell Deutsches geschaffen werden solle und daß das eigentliche Problem im Mangel an deutschen Liedern bestehe. In Wirklichkeit bezieht sich die Überschrift aber nur auf einen Aspekt des Interviews, in dem es eher um den Vergleich mit der lebendigeren englischen Chortradition geht:
Msgr. Bosbach: Ja, die Weihnachtsbotschaft bleibt aktuell, und deshalb sollte auch die Musik aktuell bleiben. Da ist England sicher für uns ein großes Vorbild, weil immer wieder neue Musik komponiert wird. [...] Und das würde ich mir eigentlich für unsere großartige deutsche Weihnachtstradition auch noch viel mehr wünschen [...]
Der Schwerpunkt liegt hier auf der Lebendigkeit der Chorkultur, und dafür sollte man die Anzahl zeitgenössischer Kompositionen wohl eher als untergeordnete Kennzahl ansehen, welche die Lebendigkeit der jeweiligen Kultur in einem gewissen Grade widerspiegelt. Das bedeutet aber nicht im Umkehrschluß, daß man dem Chorsterben dadurch entgegentreten könnte, daß man sich um mehr deutsche Lieder bemühte. Ohne sachliche Gründe dafür nennen zu können, würde ich eher glauben, daß die Kirche am überbordenden deutschen Liedgut ein Mal zugrunde gehen wird… Kompositionen für die Kirche gibt es in Fülle, und ich glaube nicht an die Notwendigkeit, ausgerechnet bei deutschen Weihnachtsliedern einen Ausbau zu erzwingen. Die religiös-musikalische Grundversorgung, also: die gesungene Messe, ist wichtiger und hat mehr Rettung nötig als irgend eine besondere Kultur. Investiert man sein Geld an der falschen Stelle und bittet um etwas „Neues“, wird man ein musikalisches Ergebnis ernten, welches eher den liturgischen Gewändern eines Modedesigners gleicht als den Höhenflügen eines Lasso, Palestrina oder Victoria. Gewiß, in der Zeit der Gegenreformation hat die Kirche noch Geld für die Musik in die Hand genommen; dazu mußte aber der Umstand kommen, daß diese Männer nicht einfach irgend welche typisch flämischen, italienischen oder spanischen Lieder schrieben; sondern sie verstanden in aller Tiefe, für wessen Liturgie sie da komponierten und gaben dem auch seinen angemessenen universellen Ausdruck.