Das Offertorium

Da verlangten sie von uns Lieder: Porfiri über die Krise der liturgischen Musik

Skyline von Macau: An Macaus heutiger St.-Josephs-Universität brachte Porfiri römische Klänge in das Land des Drachen.
Quelle: Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0).

Bei Aurelio Porfiri handelt es sich um einen profilierten Kirchenmusiker aus Rom, der sich offenbar von ganzem Herzen demselben Ziel verschrieben hat wie unser Offertorium, also der Förderung einer liturgischen Musik, welche dieser Bezeichnung auch würdig sein soll. Neben seinen musikalischen Tätigkeiten als Organist, Komponist, Chorleiter und Lehrer liegen auch viele seiner Gedanken in Textform vor. Wir besprechen hier drei Aspekte aus dem auf italienisch vorliegenden Buch Ci chiedevano parole di canto: La crisi della musica liturgica. Vom selben Autor gibt es noch einige weitere Veröffentlichungen zu verwandten Themen.

Es tut immer gut, eine Perspektive aus einem anderen Land vorgestellt zu bekommen, und zwar vielleicht nicht in erster Linie wegen der kulturellen Unterschiede, sondern weil wir uns dann gerade jener Erkenntnisse freuen können, welche sich unabhängig von Land und Kontext als wahr erweisen. Trotz eines langjährigen Aufenthaltes in Macau beschreibt Porfiri in erster Linie eine italienische, genauer eine römische Perspektive. In der Vergangenheit hat Porfiri das in erster Linie in der Form von auf italienisch verfaßten Büchlein getan, welche gar nicht so schwer zu bekommen sind, wenn sie auch im Einzelnen etwas dünn ausfallen mögen. Die Wahl des Mediums mag einer gesunden Abneigung des Autors gegenüber den sozialen Medien geschuldet sein („Deine Zunge ist dein Löwe: Läßt du ihn frei laufen, so frißt er dich.“). Glücklicherweise kennt man aber mittlerweile auch in Rom den pragmatischen Weg, und so finden sich einige englischsprachige Artikel Porfiris aus den Jahren 2023 und 2024 bei One Peter Five. Leider kommt, wie so häufig in katholischen Blogs, die Musik dort zu kurz…

Zum Format des Büchleins ist zu sagen, daß es die Buchform nicht unbedingt verdient hätte, sondern aus einer losen Sammlung zusammengehöriger Artikel besteht; es handelt sich eigentlich um ein Blog in Buchform. Das soll seinen Wert aber gar nicht schmälern! Dem Büchlein wurde ein Vorwort spendiert von keinem Geringeren als dem Direktor der Kapelle von Santa Maria Maggiore in Rom sowie ehemaligem Vorsitzenden (1995–2012) des päpstlichen Instituts für Kirchenmusik, Msgr. Valentino Miserachs Grau. Zum Stichwort „kulturelle Unterschiede“ ist also gleich zu beobachten, daß die Kirchenmusik und deren Tradition in Italien – trotz aller Krisen und Unzulänglichkeiten – mancherorts doch noch einen ehrenhaften Stellenwert genießt. Möglicherweise kann man beim italienischen Klerus einfach noch eine verbliebene Neigung zum Althergebrachten vorfinden, ganz im Gegensatz zu unserer Situation nördlich der Alpen. Porfiri gibt sich zu der Lage in seinem Land kritisch und beklagt einen Klerikalismus, der zumindest die höheren Etagen der römischen Kirchenmusik durchzieht:

Hier in Rom wird sich dir nicht die Möglichkeit bieten, in bedeutenden Kathedralen und päpstlichen Basiliken den Chor zu leiten oder die Orgel zu spielen, wenn du kein Priester bist. Nun könnte man fragen: Ist es denn notwendig, Priester zu sein, um ein guter Musiker sein zu können? Das ist sicher nicht notwendig, aber so ist es nun einmal hier in Rom und in Italien. (S. 48)

Das eigentliche Übel daran sieht er in der resultierenden Qualität, worüber er mit wohltuendem mediterranen Eifer schreibt:

Unzählige Priester verstehen wirklich nichts von liturgischer Musik und sind größere Banausen als der allerschäbigste Organist, leiten dann aber Pfarreien, Seminare, Zeitschriften und so weiter. Das soll nicht heißen, daß Ordensschwestern es unbedingt viel besser machten… Das Problem liegt aber darin, es dem Klerus verständlich zu machen, welches Gewicht die Musik im Leben jedes Einzelnen hat und welche innere Rolle sie in der Meßfeier spielt. Die jungen Priester werden von gefälliger, zweideutiger Musik verführt: Eine Musik, die eine geistliche Leere mit abartig-geschickten harmonischen Wendungen und melodischen Spitzfindigkeiten füllt, ein Schmachten und Getue, wie es in der geistlichen Landschaft der letzten Jahrzehnte gut ankommt. (S. 15)

Mancher würde sich über die ein oder andere „melodische Spitzfindigkeit“ oder gar „abartig-geschickte harmonische Wendung“ wohl eher freuen als empören; beim „Schmachten und Getue“ bin ich mir dann schon nicht mehr so sicher… Porfiri läßt offen, an welche Musik er an dieser Stelle gedacht hat, spricht aber an anderer Stelle z. B. von Popularmusik mit Gitarrenrhythmen. Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, daß sich die harten Worte im italienischen Originaltext viel wohlklingender lesen, als solch eine mühsam übersetzte Kostprobe nahelegen mag. Der zur Sprache gebrachte Gedanke ist auch in Wirklichkeit tiefer, als er sich kleidet: Die Musik ist so zentral und hat so viel Macht über den Menschen, daß eine unzulängliche liturgische Musik sogar in der Lage ist, den gesamten Klerus zu ruinieren – und mit ihm das ihm anvertraute Gottesvolk. Diese Macht rührt daher, daß die Musik nicht allein in der Natur des Menschen liegt, sondern seinen Geist angeht, also eine sprituelle Bedeutung hat, ähnlich wie die Sprache. Während im Umgang mit der Sprache die größte Gefahr darin liegt, daß Worte lügen können, so besteht bei der Musik die größte Gefahr darin, daß die „falsche“ Musik vom Wesentlichen ablenken kann. Welche Töne in der Messe zu Gehör kommen sollen, ist also mit derselben Bedacht zu erwägen wie die Frage, welche Worte in der Messe gesprochen werden sollen.

Aber zurück zu Porfiri:

Die musikalische Ausbilung (und vielleicht nicht nur diese…) des Klerus ist auf ein wirklich bedenkliches Niveau abgesunken, und diese Priester werden dann Monsignori, Bischöfe, Kardinäle und so weiter. Wie kann sich da die liturgische Musik erneuern gemäß dem zweiten vatikanischen Konzil (dem wahren, nicht dem des geheimnisvollen angeblichen „Geist des Konzils“)? Wie kann man erwarten, daß endlich in allen Kirchen das „neue Lied“ erklinge, wenn jene, denen das Gottesvolk anvertraut ist, keine Ohren haben zum Hören?

Mit einem Augenzwinkern nennt sich der Autor folgerichtig einen Antiklerikalisten. Und Recht hat er ja: Wenn die liturgische Musik zur liturgischen Sprache gehört, dann braucht der Priester (und nicht nur der) darin ein Grundverständnis als geistliche Rüstung. Die Seminarien bleiben ihren Seminaristen eine entsprechende Ausbildung meistens schuldig. Das kann gar zu der Schlußfolgerung führen, daß die liturgische Musik nicht so wichtig sein kann. Dann ist sie bald entbehrlich und wird wirklich ersetzt werden durch besagtes „Schmachten und Getue“.

Ein zweites wiederkehrendes Thema formuliert der Autor so:

Du sollst nicht in der Messe singen, du sollst die Messe singen! (S. 63)

Das ist nun ein ganz zentrales Anliegen: Musik für die Liturgie, nicht Musik in der Liturgie! Damit ist auf den Punkt gebracht, was der Westen – wie ich glaube – weitestgehend verloren hat:

Das Meßbuch! Wie bereits geschrieben, hat [die Verwendung des Propriums] diverse Vorteile: Die Antiphonen von Introitus und Communio (welches Schicksal hat eigentlich das Offertorium erlitten …?) sind zusätzliche biblische Lesungen, ganz wie es das zweite vatikanische Konzil gewollt hat. Die Antiphonen umschreiben die Liturgie, färben sie, bezeichnen sie mit einem ganz eigenen Sinn. Die Antiphonen eignen sich für vielerlei Art der Ausführung, von einstimmig bis polyphon und alles dazwischen. Die Antiphonen sind kurz und leicht einzuprägen, und so weiter. (S. 32)

Um in diesen Ton einmal richtig einzustimmen: Ich selbst sehe mich jedes Mal von Neuem erstaunt, wie wenig vertraut die Menschen und besonders die Scholasänger zum Beispiel mit dem Introitus sind. Ist es wirklich ein mystisches Geheimwissen, daß jeder Sonntag seinen eigens komponierten Introitus besitzt? Muß man erst wochenlang staubige alchemistische Wälzer studieren, um zu erfahren, daß man den Introitus am Anfang der Messe singt und die Communio gegen deren Ende? Verlangt es (entsprechendes Vorwissen vorausgesetzt) übermenschliche Anstrengung, einen Introitus unter der Woche einzustudieren und zu proben, um ihn am Sonntag erklingen zu lassen? Oder vielleicht ist das alles ganz einleuchtend, aber es ist so viel Information auf einmal, daß das Volk Gottes dies alles am nächsten Sonntag bereits wieder vergessen hat? Wer Ohren hat zum Hören, der höre!

Drittens bespricht Porfiri, wie man es angehen könnte, die Lage zu verbessern:

Um die liturgische Musik aus ihrer Situation schweren Ungemachs zu führen, könnte man zwei Lösungen ausmachen: Eine von oben und eine von unten. Sprechen wir zunächst von jener von oben. Wäre es der Sache zuträglich, würde der Papst eingreifen, um das Niveau und die Qualität der Musik unserer Liturgien geradezurücken? Um es kurz zu machen: Unter den jetzigen Umständen ist die Antwort nein. Das Problem ist die „Mittel-Welt“, was tolkiensch ausgedrückt den Raum beschreibt, der sich zwischen oben und unten befindet. […] Hatte Papst Benedikt XVI. die musikalisch-liturgische Tradition nicht etwa hochgeschätzt? Trotzdem hat sein Pontifikat keine entsprechenden Auswirkungen gehabt, jedenfalls keine Auswirkungen, die bis in die Pfarreien hinein gewirkt hätten.

Und zur Lösung von unten:

Ich denke, es braucht heute Taten von einzelnen gut informierten Musikern, die außerdem vernetzt sein sollten (wo das heutzutage so einfach zu haben ist). Es braucht eine flüssige Struktur, die sich der modernen Technologien zu bedienen weiß und Widerstände durchbrechen kann (denn in der „Mittel-Welt“ trifft man auf manch starke Charaktere). Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es auch nichts nützen, sich eine institutionelle Form zu geben; besser meidet man die Gefahren, denen andere Arten von Organisationen so leicht verfallen sind. Man müßte sich um eine ideelle Verbindung bemühen. Die Ideen dazu dürfen wenige sein, wenn sie klar sind: Achtung und Pflege der Tradition, Bemühen um einen rechten Fortschritt, Wiederentdeckung des Missale, Zuspruch für Chöre und Organisten, und: das Gute annehmen, wo man es findet.

Übrigens handelt es sich beim Titel des Buches natürlich um ein Zitat aus dem wunderbaren Psalm 136:

An den Strömen von Babel,
da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.
Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder,
unsere Peiniger forderten Jubel: »Singt uns Lieder vom Zion!«
Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn,
fern, auf fremder Erde?

Super flumina Babylonis… Diese Zeilen werden noch lange widerhallen, immer und immer wieder.