Aufbruch in die Ewigkeit
Weizenfelder in Kansas.
Quelle: Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0 James Watkins).
Bereits im vergangenen Februar erschien im Pillar ein Artikel mit dem programmatischen Titel What exactly is sacred music?. Den Anstoß dazu gaben die Fortschritte des Bistums Wichita, dessen Bischof Carl Kemme genau das tut, was unser Offertorium überhaupt erreichen will: Mit der Veröffentlichung des Hirtenbriefs Let us sing with the Lord vom 13. September fördert der Bischof die richtige Ausführung der sakralen Musik.
Daß solche Töne aus dem Mittelpunkt der Vereinigten Staaten zu uns herüberwehen, ist beschämenderweise wenig bemerkenswert; passend dazu lautet der Wahlspruch Bischof Kemmes auch: Humilitas! Beschämt sollten nämlich wir Europäer sein, daß wir unser eigenes Handwerk verlernt haben. Viel bemerkenswerter ist es, daß überhaupt ein Bischof ein Dokument über die Kirchenmusik veröffentlicht hat und darin auch genau die richtigen Punkte anspricht. Dies bestätigt, was Bischof Kemme wiederum selbst schreibt:
„Die Vision, die ich beschreibe, ist eigentlich nicht meine eigene Vision; ich halte sie für die Vision der Kirche für die sakrale Musik.“
Der Pillar fügt hinzu:
„Kemme sagt, ihm sei nicht bekannt, daß andere heutige Bischöfe viel über die sakrale Musik geschrieben hätten.“
Man bedenke, daß ein vom Bischof in Gang gesetztes und so gewolltes Programm ganz andere Erfolgsvoraussetzungen schafft, als es das punktuelle Engagement Einzelner in einer ansonsten eher liturgiefeindlichen Umgebung vermag. Wir haben es also wirklich nicht mit irgend einem lapidaren Hirtenbrief zu tun, sondern mit einem ganz bemerkenswerten Vorgang, dem der bestmögliche Erfolg sowie weitreichende Ausstrahlung zu wünschen ist.
Zum Stichwort „kirchliche Dokumente über die sakrale Musik“ erinnert der Pillar an die drei bekanntesten, die zur kantoralen Allgemeinbildung gehören sollten, nämlich Tra le sollecitudini (Pius X., 1903), Kapitel 6 in Sacrosanctum concilium (1963) sowie Musicam sacram (1967). Das weniger bekannte Chirograph Johannes Pauls II. (2003) weiß die Liste zu vervollständigen mit Annus qui hunc (Benedikt XIV., 1749), Mediator Dei (Pius XII., 1947) und dem sehr relevanten Musicae sacrae disciplina (Pius XII., 1955).
Es gehört zum Stil des englischsprachigen Katholizismus, wertende Aussagen möglichst vollständig mit Zitaten aus offiziellen Kirchendokumenten zu belegen. Diese Art der Argumentation setzt voraus, daß die Leser die entsprechenden Dokumente bereits kennen oder zu lesen gewillt sind. Die Leser des Offertoriums seien in dieser Hinsicht also auf zukünftige Artikel vertröstet, in denen wir die Enzykliken in ihrer Gesamtheit besprechen können. Darüber hinaus hat der Pillar aber auch Kirchenmusiker nach ihrer persönlichen Sicht befragt und führt glasklar vor, daß die „eine“ Vision für die sakrale Musik nicht von allen vorbehaltslos geteilt wird. So sagt dort auf der einen Seite ein Verleger aus Michigan:
„Die Idealform der Liturgie ist stets die gesungene, und die Kirche sagt das ganz klar. Die Liturgie soll gesungen werden.“
Und ein Kirchenmusiker aus Colorado bestätigt:
„Die Musik der Kirche ist zuallererst der gregorianische Gesang, danach kommt die Polyphonie, und danach kommen Lieder und lokales Brauchtum. Leider haben wir in Amerika das herumgedreht.“
Die andere Sichtweise erhielt der Pillar von einem Komponisten aus Maryland:
„Alle Formen liturgischer Musik sollten in der katholischen Kirche einen willkommenen Platz finden, und wir sollten diese Vielfalt mit ganzem Herzen annehmen. … Wir sollten uns den Notwendigkeiten der Kirche und ihrer Pfarreien anpassen, die Bedürfnisse der Gläubigen berücksichtigen und ein Dazugehörigkeitsgefühl fördern. … Dem gregorianischen Gesang kann man seine historische Bedeutung und Feierlichkeit zugutehalten, man sollte ihn aber nicht als die einzige oder primäre Art von Musik ansehen, welche mit dem Gottesdienst im Einklang steht und zu Ehrfurcht und Würde in der Liturgie beiträgt.“
Hier ist wieder einmal ganz klar zu sehen, wie unterschiedliche theologische Auffassungen zu ganz verschiedenen musikalischen Ergebnissen führen. Der Unterschied ist augenfällig: Die ersten beiden Meinungen beginnen bei der Liturgie und suchen dieser zu genügen; die andere versucht, aus der Vielfalt der Lebenswirklichkeiten irgendwelche Maximen abzuleiten, die in jedem Fall darauf hinauslaufen, das der Kirche Eigene durch ein Anderes zu ersetzen, dessen einzige positive Qualitäten darin bestehen sollen, dem Gottesdienst nicht gänzlich zuwiderzulaufen.
Ist das nun eine Schwarz-Weiß-Malerei, und haben wir die zitierten Meinungen in linke und rechte Schubladen eingeteilt? Nein, in Wirklichkeit ist durch alle Schubladen hindurch die Meinung vorherrschend, daß bei der Kirchenmusik für alle etwas dabei sein sollte und sie deswegen so abwechslungsreich wie möglich gestaltet werden sollte. Die persönliche Abneigung des einen oder anderen Besuchers gegenüber der Gregorianik tut dann ihr Übriges und ehe man sich's versieht, ist man vom eigentlichen Ziel ein gutes Stück weit abgerückt. Oder um mich selbst zu zitieren: Man sollte nicht alles machen wollen, wo es noch am Einfachsten fehlt.
Auch wenn man die Vision an sich teilt, kann man selbstverständlich noch über Details diskutieren. So geht es mir nicht ganz wohl mit einem Absatz aus Bischof Kemmes Hirtenbrief:
„Eine besondere Eigenschaft der Texte des Propriums liegt darin, daß das Wort immer zuerst kommt und wesentlicher ist als die musikalische Komposition. Das ist wichtig, weil das gesungene Wort in der Liturgie das Wort ist, das Fleisch geworden ist.“
Über die unglückliche Rede vom „Vorrang des Textes“ habe ich mich hier im Offertorium bereits einmal ausgelassen. Sachlich ist es natürlich richtig, daß der Text zuerst festgelegt war und nicht etwa später der Komposition angepaßt wurde. Spätestens bei Kemmes Identifizierung des „gesungenen Wortes in der Liturgie“ mit dem „Wort, das Fleisch geworden ist“ bin ich aber nicht mehr bereit, mit der Formulierung mitzugehen. Hier scheinen mir zwei verschiedene „Worte“ vermischt zu werden, und wenn alles irgendwie „das Wort“ sein kann, besteht in meinen Augen die Gefahr, im nächsten Schritt die Realpräsenz in der Eucharistie zu relativieren. Glücklicherweise kam der problematische Absatz im Hirtenbrief offensichtlich nicht durch etwaige theologische Irrwege zustande, sondern wurde wohl lediglich hinzugefügt in dem Versuch, die Wichtigkeit des gesungenen Propriums zu untermauern. So geht es dann auch ganz richtig weiter:
„Die Antiphonen sind, da sie den Psalmen entnommen sind, ein Teil des Gebets Christi zum Vater, und wenn wir sie in der Liturgie singen, stimmen wir in Christi Stimme ein.“
Bleibt zu erwarten, wie viele Menschen (Sänger, Pfarrer, Bischöfe oder Päpste) neben Bischof Kemme sich in den uns bleibenden Jahren bereit zeigen, in Christi Stimme einzustimmen.